vor der Olympiapremiere des Bouldersports

”Wir lauern auf
unsere Chance“

Kletter- Und Boulder Bundestrainer Urs Stöcker
im Interview

Premiere bei
Olympia

Der Countdown läuft: Nur noch wenige Tage und die olympischen Spiele in Japan starten. Endlich! Mit einem Jahr Verspätung! Zum zweiten Mal, nach 1964, wird das Land der aufgehenden Sonne und der Kirschblüte Gastgeber der prestigeträchtigen Wettbewerbe sein. Insgesamt werden etwa 11.200 Sportlerinnen und Sportler mit dabei sein. 434 Athlet*innen kommen aus Deutschland. 33 Sportarten – fünf mehr als bei den letzten olympischen Spielen – werden sich diesmal präsentieren. Neben Baseball, Karate, Skateboard und Surfen, die in Japan ihr Olympia-Debüt feiern, wird auch das Sportklettern erstmals als Kombinationsdisziplin auf dem olympischen Parkett vertreten sein. Das bedeutet: die internationale Kletterelite misst sich in einem Dreikampf bestehend aus Speed-Climbing, Bouldern und Seilklettern.

Foto: Alexander Megos ist einer der zwei Deutschen Olympiastarter im Klettern.
© Marco Kost / DAV

Seit 2017 ist der Schweizer Urs Stöcker (44) Trainer des deutschen Kletter-Nationalteams. Mit ihm sprachen wir über die Chancen der deutschen Athleten, über die Abläufe der Wettbewerbe, warum keine deutschen Frauen im Kletter-Olympiakader sind – und auch über die Corona-bedingten Einschränkungen, mit denen die Athleten in Japan zurecht kommen müssen.

Herr Stöcker, wie aufgeregt sind Sie, wenige Tage, bevor Olympia startet?

Bundestrainer Urs Stöcker
© Marco Kost / DAV

”Aufgeregt bin ich eigentlich weniger. Ich würde eher sagen, Freude und Anspannung wechseln sich gerade ab. Angespannt bin ich weniger aus sportlicher Sicht, sondern mehr was das Organisatorische betrifft. Die ganzen Corona-Regeln in Japan sind so streng und werden ständig erweitert, da muss man höllisch aufpassen, nichts zu verpassen und in irgendeine „Falle“ treten. Dennoch freuen wir uns natürlich sehr, endlich mal dabei sein zu dürfen.“

Hätten Sie sich jemals träumen lassen, einmal selbst den berühmten olympischen Spirit zu spüren?

”Zu Beginn meiner Trainerkarriere war Olympia undenkbar.“

Zu Beginn meiner Trainerkarriere war Olympia undenkbar und ganz weit weg. Aber seit den letzten beiden Olympischen Spielen wurde der Gedanke, doch mal dabei sein zu können, immer realistischer. Dass das jetzt wirklich klappt ist ein wahr gewordener Traum und wirklich schön.“

Foto: Jan Hojer sicherte sich im olympischen Format die Bronze Medaille bei den Weltmeisterschaften 2018 und zählt zum Favoritenkreis in Tokio.
© Nicolas Altmaier / DAV

Wettkampfzeiten zu OLYMPIA

Dienstag, 3. August 2021 – Men’s Combined Qualification
10Uhr Speed / 11Uhr Bouldering / 14.10 Lead

Mittwoch, 4. August 2021 – Women’s Combined Qualification
10Uhr Speed / 11Uhr Bouldering / 14.10 Lead

Donnerstag, 5. August 2021 – Men’s Combined Final
10.30Uhr Speed / 11.30Uhr Bouldering / 14.10 Lead

Freitag, 6. August 2021 – Women’s Combined Final
10.30Uhr Speed / 11.30Uhr Bouldering / 14.10 Lead

Der Klettersport ist zum ersten Mal bei Olympia dabei. Dafür wurde ein Kombi-Wettbewerb kreiert, den es so bis vor wenigen Jahren nicht gab – bestehend aus Bouldern, Speed-Climbing und Seilklettern (Lead). Was halten Sie davon?

”In erster Linie begrüße ich es, dass Klettern jetzt olympisch ist. Hätte ich die Wahl gehabt, dann hätte ich alle drei Disziplinen als Einzelwettbewerbe stattfinden lassen – aber auch die Kombination. So ähnlich wie in der Leichtathletik, wo es den 100-M-Sprint, den Weitsprung, Kugelstoßen etc. gibt – und dazu noch den Zehnkampf. Ich finde die Kombinationswettbewerb in unserem Bereich schon sehr interessant, weil es den kompletten Kletterer zeigt, mit allem was er beherrscht: Schnelligkeit, Kraft, Ausdauer und Köpfchen.“

Sie sind einer von drei Bundestrainern des deutschen Kletter-Teams. In Tokio wird unser Land von zwei Athleten vertreten: Alexander Megos aus Erlangen und Jan Hojer aus Köln. Wo liegen die Stärken der beiden und worin unterscheiden sie sich?

Jan kennt Asien und ist im Wettkampfklettern bereits ein „alter Hase“. Seine stärkste Disziplin ist das Bouldern. Darin hat er bereits mehrere Weltcups gewonnen und war auch schon Gesamt-Weltcupsieger. 2014 dazu noch Vize-Weltmeister. Er hat also schon öfter gezeigt, dass er auf dem absolutem Top-Niveau der Weltspitze mithalten kann. Und in der Kombination, mit Speed- und Lead-Klettern, hat er bei der WM 2018 in Innsbruck die Bronze-Medaille geholt. Er ist ein extrem zäher und physischer Athlet, mit viel Erfahrung und Schnellkraft. Mit ihm ist also zu rechnen. Vor allem im Bouldern und im Speed-Klettern. Das Lead-Klettern ist eher Alexanders Stärke. Seit klar ist, dass Klettern als Kombinations-Wettbewerb olympisch wird, hat er sich dem Projekt angenommen und hart trainiert. Er kommt eigentlich aus dem Felsklettern. Daher sind Lead und auch das Bouldern seine Hauptdisziplinen.

Nachgehakt!

Gibt es einen Athleten, der in allen drei Disziplinen auf Top-Niveau unterwegs ist?

”Unterschiedlicher könnte dieser Dreikampf tatsächlich nicht sein. Im Speed ist extreme Schnellkraft gefragt. Bouldern ist eine sehr maximalkräftige Disziplin. Und im Lead braucht es Kraftausdauer. Was überall gefragt ist, das ist Kraft und Technik. Es gibt nur sehr sehr wenige Sportler, die alle drei Disziplinen auf Top-Niveau beherrschen. Dazu gehört auf jeden Fall der Japaner Tomoa Narasaki. Er ist im Bouldern top, im Speed top und auch im Lead extrem gut dabei. Für mich einer der Olympia-Favouriten.“

Warum sind keine deutschen Frauen im Team dabei?

”Weil sich leider keine qualifiziert hat. Das ist wirklich schade und auch ärgerlich, denn wir hätten auf jeden Fall, die Chance gehabt. Eine unserer Top-Favoritinnen hat sich aber kurz vor dem Qualifikationswettbewerb verletzt. Im Augenblick sind wir in Deutschland auch eher im Herren-Bereich auf Niveau der Weltklasse, insbesondere im Bouldern und im Lead. Aber Ziel ist es natürlich, auch im Frauen-Bereich an das Niveau der Weltspitze heranzukommen. Daran arbeiten wir auch.“

Wie groß ist das Teilnehmerfeld in Japan?

”Es treten 20 Herren und 20 Damen an. Geht man nur nach den Ergebnissen der Qualifikation, hätten wir auch drei Athleten nach Japan schicken können. Aber die Länderquote besagt, dass aus jedem Land nur zwei Athleten im Herren- und zwei Athletinnen im Damenbereich antreten dürfen. Gäbe es diese Regel nicht, wäre der Wettbewerb vermutlich nur von den Japanern, die extrem stark sind, dominiert wurden.”

Über ein Jahr lang fanden im Klettersport so gut wie keine Wettkämpfe statt. Wie sah Ihre Vorbereitung aus? Und wie geht man damit um, dass man nicht weiß, in welcher Form die Gegner derzeit sind?

Urs Stöcker betreut Afra Hönig
© Marco Kost / DAV

”In den Einzeldisziplinen fanden schon ein paar Wettbewerbe statt – aber leider nicht in der Kombination, weil der Organisationsaufwand dafür extrem hoch ist. Daher ist es sehr schwer einzuschätzen, wer da im Augenblick vorne mitspielt. Man kann eigentlich nur versuchen, aus den Ergebnissen der Einzeldisziplinen etwas herauszulesen.“

In Japan herrschen andere klimatische Bedingungen als hier. Es ist wärmer und die Luftfeuchte ist höher. Birgt das nicht Nachteile für europäische Sportler?

Als Sportler hätte ich nicht die Chance gehabt, an olympischen Spielen teilzunehmen.

”Ich glaube schon, dass die Europäer dadurch ein paar Nachteile haben, gegenüber den Japanern, die dieses Klima ja gewohnt sind. Daher fliegen wir auch zwei Wochen vor den eigentlichen Wettbewerben nach Tokio, um uns zu akklimatisieren. Wir haben dort auch Wände gemietet, um unter den klimatischen Bedingungen noch einmal zu trainieren und um uns an die Bedingungen zu gewöhnen.

Der Klettersport wird immer populärer. Das sieht man auch daran, dass ein Kletterwettbewerb kürzlich zum ersten Mal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wurde… War das längst überfällig?

”Absolut. Aber das war auch ein logischer Schritt. Denn in anderen Ländern, wie den USA, Japan oder der Schweiz werden Kletter-Wettbewerbe schon länger übertragen. Dort ist aber auch der Fußball nicht so dominant wie hier.“

Urs Stöcker mit akribischem Blick für die Videoanalyse
© Marco Kost / DAV

Urs Stöcker kommt aus dem alpinen Klettersport und ist seit 2017 Bundestrainer des deutschen Boulder- & Kletternationalkaders
© Fotos privat

Sie selbst sind Schweizer – und  studierter Physiker. Wie sind Sie zum Trainer der deutschen Nationalmannschaft geworden?

”Ich hab‘ schon während meines Physik-Studiums bzw. während meiner Doktorarbeit als Trainer gearbeitet. War dann 10 Jahre im Schweizer Sportverband Nationaltrainer. Und hab mich 2017 entschieden, nach Deutschland zu wechseln. Auch mit Hinblick auf Olympia.“

Bedauern Sie, nicht selbst bei Olympia antreten zu können bzw. dass der Klettersport nicht früher bei den olympischen Spielen berücksichtigt wurde?

”Nein, da muss ich realistisch sein. Als Sportler war ich eher im Alpinismus aktiv, da hätte ich nicht die Chance gehabt, bei Olympia dabei zu sein. Da waren andere besser als ich. Umso glücklich bin ich, dass ich jetzt als Trainer dabei sein darf. Wir gehören sicher nicht zum Top-Favoritenkreis. Aber wir lauern auf unsere Chance, und schlagen zu, wenn sie sich bietet.“